Mit der Meditation ist das so eine Sache. Die meisten glauben, sie ist eine Art transzendentale Übung, eine religiöse Verrichtung. In Wirklichkeit ist sie die "via regia" zur Seele des Menschen, die Sigmund Freud im Traum vermutet hatte. Meditation ist ein mentales Werkzeug, das uns lehrt, uns selbst und die Welt überhaupt erst zu erkennen und zu begreifen: Geistesschulung vom Feinsten.

Die NASA experimentierte lange mit dem Entzug aller Sinneswahrnehmungen in dunklen und schalltoten Räumen. Über all diesen Versuchen stand das Motto "Eroberung des Alls", ein Menschheitssport, in dem es gilt, Höchstleistungen zu vollbringen. Das gibt den Astronauten eine übergeordnete Motivation, einen gewissen inneren Halt, der auch in schalltoten Räumen erhalten bleibt.

Meditation ist ein ähnlicher Entzug, hat aber kein spezielles Ziel, das man anpeilen könnte. Und wenn anfangs eines vorhanden war (Entspannung, Weisheit, Erleuchtung etc.), so kommt es bald abhanden: es wird im Laufe der Zeit immer fragwürdiger. So verliert der Meditierende - im Gegensatz zum Astronauten - seine ursprüngliche Orientierung. Und erlebt dadurch natürlich auch andere Dinge, als dieser.

Es gehört zum Wesen der Meditation, daß man nicht davonlaufen kann, weder nach außen (weil die Spielregel verlangt, daß man sitzenbleibt, egal was passiert), noch innerlich (unter Zuhilfenahme übergeordneter Ziele und Motive). Gleich hier scheiden sich die Wege: Die einen halten sich eisern fest an ihren Gewohnheiten und Gewißheiten, die anderen lassen los. Nicht sofort, aber dann doch.

Diejenigen, die loslassen, tun das, so meine ich, nur in den seltensten Fällen freiwillig. In der Regel erleben sie während der Meditation so etwas wie eine Heimsuchung (im doppelten Wortsinn). Etwas Inneres, das ihnen bisher nicht bewußt war, meldet sich mit aller Macht und rüttelt an ihren Fundamenten. Es rüttelt so stark, daß alle Verhaltensregeln und Gewohnheiten, die sie sich vielleicht zuvor eingeprägt hatten, hinfällig werden. Dann hilft nur eines: sitzenbleiben und warten, bis der Sturm vorbei ist. Und versuchen zu verstehen, was er sagen will.

Mich hat immer die Unausweichlichkeit fasziniert, mit der Wahrheiten sich dem Bewußtsein während der Meditation aufdrängen. Man kommt ihnen nicht aus, so sehr man es manchmal auch möchte. Und wenn man sich ihnen schließlich stellt, den Schritt vom Wahrnehmen zum Wahrhaben tut, ist der ganze Spuk auch schon vorbei. Don Quichote's Windmühlen kommen mir in den Sinn. Der ganze innere Kampf entpuppt sich als Schimäre, als Papiertiger. Und was am Ende bleibt, ist, wie schon Bodhidharma sagte, "Offene Weite, nichts von heilig".

Wer mit den Tafeln von Chartres meditiert, geht noch einen Schritt weiter. Durch die visuelle Stimulation der Sehrinde mit zwei verschiedenen Farben werden Augen und Geist in einen hochalerten Balancezustand gebracht, der im Alltag nur sehr selten gegeben ist: Beide Augen sind zu gleichen Teilen am Prozeß des Sehens beteiligt, beide Gehirnhemisphären gleichermaßen am Denken und Erkennen. Dieser Zustand ist paradoxerweise sowohl extrem fokussiert, als auch seltsam losgelöst. Es ist ein Geisteszustand aktiver innerer Klarheit, gepaart mit einer großen Ruhe, die im entspannten Sitzen ihre körperliche Entsprechung und einen Anker hat. (Deswegen ist die Fähigkeit zur Entspannung bei der Meditation - und auch sonst - so wichtig.)

Dieser hochalerte aktiv-ruhige Zustand innerer Klarheit ist ein Schlüssel zur Selbstreflektion. Er ist die unabdingbare Voraussetzung für intelligentes Denken und eigenverantwortliches Handeln. Und somit für menschliche Sinnhaftigkeit schlechthin. "Das Selbst wird in dem Augenblick geboren, wo es die Kraft bekommt, sich selbst zu reflektieren." (zit. aus: Douglas Hofstadter: Gödel, Escher, Bach)

Diese sich selbst reflektierende Klarheit, in die man in der Meditation mit den Tafeln immer tiefer eindringt, öffnet den Geist. Dieses Öffnen hat zwei Seiten. Einerseits lehrt es vieles, was vorher verborgen war. Andererseits erschüttert dieses Viele so tief, daß sich Abgründe auftun, die ebenfalls zuvor nicht vorhanden waren. So wie Genie und Wahnsinn nahe beieinander liegen, so ist auch der Grat sehr scharf, dem der Meditierende auf seinem Weg zur Erkenntnis folgt. Halt gibt in dieser Situation nur das Sitzenbleiben vor den verankernden Tafeln. Und die Antwort des alten Zenmeisters aus China auf die Erregung seines Schülers: "Trink erst mal eine Tasse Tee."

Meditation ist sicher nicht für jedermann und jederzeit geeignet. Man muß sich dazu entschließen. Ein solcher Entschluß wird natürlich erst möglich, wenn man zu ahnen beginnt, worum es dabei geht. Und das kann eine Weile dauern. Vielleicht helfen ja diese Zeilen, den Prozeß zu verkürzen...

G.P., Lenzwald, Januar 2000